01.10.2015

Europa im Ausnahmezustand

Vertreter der Kirchen, allen voran der Papst, überbieten sich in Appellen, den Flüchtlingen zu helfen. Wie aber hilft man Flüchtlingen vernünftig, ohne dabei die eigene Gesellschaft vollends aus dem ohnehin schon labilen Gleichgewicht zu bringen? Betrachten wir das Schul- und Bildungswesen unseres Landes, so fällt auf, dass in deutschen Kindergärten die Anzahl von Kindern mit ausländischer Staatsbürgerschaft 2014/15 um 10,1 Prozent gestiegen ist. In den deutschen Grundschulen des Landes stieg der Ausländeranteil ebenfalls kontinuierlich an von 5,9 Prozent im Schuljahr 2011/12 auf 7,7 Prozent im Schuljahr 2014/2015. In italienischen Kindergärten und Grundschulen liegt der Anteil inzwischen bereits bei 25 Prozent. Dieser rasante Anstieg stellt nicht nur Schüler und Lehrpersonen vor große Herausforderungen, sondern wird vor allem angesichts der ansteigenden Flüchtlingsströme zu einem Problem, das nicht übersehen werden sollte.

Aktuelle Flüchtlingsprobleme in Deutschland

In Deutschland ist die Situation noch viel prekärer. Anfang September 2015 schätzten Experten noch, dass zwischen 150.000 bis 200.000 Flüchtlingskinder an deutsche Schulen kommen und beklagten, dass bereits jetzt alle Übergangsklassen überfüllt seien und dass es akut an Lehrern, Psychologen und Dolmetschern fehle. Inzwischen hat Deutschland damit begonnen, seine „Willkommenskultur“ zu feiern und muss damit rechnen, dass die vorher genannten Zahlen vielleicht um das Doppelte, wenn nicht um ein Vielfaches noch steigen. Doch was bedeutet das für die ohnehin schon angespannte Situation an den Schulen? Bringt die große Zahl an Flüchtlingen die Schule nur an die Grenzen ihrer Kapazität oder führt sie zum völligen Chaos?

Täglich kommen noch immer Tausende

Täglich kommen noch immer Tausende von Flüchtlingen nach Deutschland und der Strom scheint nicht abzureißen. Denn noch warten laut UNHCR Millionen Flüchtlinge der insgesamt 38,3 Millionen Flüchtlinge in verschiedenen Flüchtlingslagern, davon 1,59 Millionen in der Türkei, 1,51 Millionen in Pakistan, 1,15 Millionen im Libanon, 982.400 im Iran, in Äthiopien 659.500, in Jordanien 654.100. Mindestens die Hälfte davon sind Kinder im schulpflichtigen Alter. Viele wollen nach Euro­pa, nach Deutschland, das derzeit geradezu überflutet wird. Was das für die Schulen für Herausforderungen bringt, bedenken die wenigsten. Dabei waren die Probleme bereits in der Vergangenheit schon groß. Es fehlte an Lehrern, viele Lehrer fühlten sich zudem überfordert, beklagten den mangelnden Respekt der Schüler, bekamen Stresskrankheiten wie Tinitus oder Burnout. Jetzt allerdings wird all das nur noch viel schlimmer. Denn angesichts der vielen traumatisierten Flüchtlingskinder fehlt es nicht nur an sogenannten Übergangsklassen, sondern auch an therapeutischen Fachkräften und vor allem an Konzepten, wie mit dieser immensen Herausforderung umgegangen werden kann. Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbands bringt es auf den Punkt, wenn er in einem Interview sagt: „Die Bundesregierung hat die Dimension zu spät erkannt.“ Die enorme Menge an Kindern ist schlicht und einfach nicht zu verkraften.

„Himmel und Erde werden vergehen; aber meine Worte werden nicht vergehen.“
Worte Jesu in der BIBEL, Mt. 24,35

Wie viele Flüchtlingskinder werden an deutsche Schulen kommen?

Dazu gibt es keine Zahlen. Der Strom an Familien reißt nicht ab, die mit ihren Kindern in Deutschland ankommen. Udo Beckmann, Bundesvorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung (VBE), schätzt, dass etwa 60 Prozent der ankommenden Flüchtlinge Kinder im schulpflichtigen Alter sind. Viele von ihnen haben keinen Pass.

Wie werden die Flüchtlingskinder in die Klassen integriert?

In den meisten deutschen Bundesländern gibt es sogenannte Übergangsklassen. Hier liegt der Schwerpunkt darauf, dass die Kinder zuerst einmal Deutsch lernen, damit sie überhaupt imstande sind, dem Unterricht zu folgen. Im Schnitt sind das eineinhalb Jahre, hängt aber auch von der Sprachbegabung des jeweiligen Kindes ab. Weit mehr als ein Drittel der Flüchtlinge sitzt in den Regelklassen, weil es an Übergangsklassen fehlt. Das ständige Kommen und Gehen von Kindern und die unterschiedlichen Herkunftsländer fordern von den Lehrern extrem viel, so dass es mit einem geregelten Unterrichtsbetrieb schlicht und einfach nicht mehr zu vereinbaren ist. Generell mangelt es derzeit noch an Dolmetschern, Pädagogen, Psychologen und Integrationslehrkräften, kritisiert Simone Fleischmann, die Präsidentin des Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverband (BLLV).

„Als ich den Herrn suchte, antwortete er mir und errettete mich aus aller meiner Furcht.“
Die BIBEL, Psalm 34,5

Welche Probleme sind zu bewältigen?

Viele sind überzeugt, dass die Schulen den Ansturm der Flüchtlingskinder nicht bewältigen werden. Viele der Kinder seien traumatisiert, viele depressiv, einige selbstmordgefährdet. Wenige nur sprechen ein paar Worte Deutsch. Auf all diese Probleme sind die Lehrkräfte nicht vorbereitet. Sämtliche Auffangklassen sind bereits jetzt heillos überfüllt. Die Kinder entstammen unterschiedlichen Kulturkreisen mit unterschiedlichen Erziehungsstilen, unterschiedlichen Laut- und Schriftsystemen. All diese Kinder bräuchten eigentlich eine individuelle Betreuung und Förderung, die sie auf ihr weiteres Leben vorbereitet und vor einer Ghettoisierung schützt. Doch davon ist man derzeit weit entfernt. Deshalb ist zu befürchten, dass all diese Probleme nicht ohne Folgen bleiben werden. Eines ist klar: Europa befindet sich derzeit in einem Ausnahmezustand. Und es ist voraus­sehbar, dass sich die Lage weiter zuspitzen wird. Als Christen müssen wir Position beziehen. Aber es ist falsch, wenn wir mit einem romantischen Verständnis der Bibel darauf reagieren. Denn wenn die Aufforderung Jesu auch die ist, dem Menschen in Not zu helfen, so bleibt doch zu bedenken, dass alles seine Grenzen hat. Niemandem ist geholfen, wenn dabei der Helfende selbst daran zugrunde geht. Das kann jeder bei sich selbst beobachten oder im Kreis der Familie erproben. Leben ist immer eine Frage des Gleichgewichtes. Deshalb sagt Jesus: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ (Mt. 19,19) Wobei immer noch die Frage bleibt, wer der Nächste ist. Eine einseitige Auslegung der Bibel hat bereits oft zu großen Irrtümern in der Geschichte geführt. Das sollte auch in der gegenwärtigen Herausforderung nicht vergessen werden.

„Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben.“
Die BIBEL, Johannes 3,36

Es gibt aber noch einen ganz anderen Aspekt, den es zu bedenken gilt. Denn auch das wird derzeit völlig übersehen. Das ist der Transfer von ausgebildeten Fachkräften, jungen Talenten und für die jeweilige Region oder das Land wichtigen Menschen.

Afrika und der Nahe Osten verlieren Menschen, die sie dringend brauchen würden

Die anhaltende Flüchtlingswelle aus Afrika und dem Nahen Osten hat gravierende Auswirkungen auf die Herkunftsländer. Kardinal Peter Turkson (66) sagt in einem Interview: „Afrika kann diese demographische Ausblutung nicht länger verkraften“. Deshalb ruft er die Afrikaner auf, in ihren Heimatländern zu bleiben statt zu flüchten, weil die vielen jungen Menschen ihrer Heimat nicht verloren gehen dürfen. Gleichzeitig beklagt er, dass die meisten Flüchtlinge von großen Illusionen nach Europa gelockt werden. „Die wirkliche Geschichte ihrer Wanderschaft“, so sagt er, „wird daheim nie erzählt; über die Erniedrigung und die Schmerzen wird geschwiegen“. Der Kardinal appellierte auch an die Europäer, viel mehr die Ursachen der Flucht in den Heimatländern zu bekämpfen. Mildtätigkeit allein sei da keine Lösung. Was es braucht, seien Mission, Aufbauprogramme, Bildung und technisches Know How. Europa andererseits kann nicht noch mehr Menschen aufnehmen, ohne sich selbst und seine Kultur zu verändern. Deshalb geht es darum, auch eine Flüchtlingsproblematik nicht einseitig zu sehen. Denn die Wirklichkeit ist sehr komplex und birgt leider auch viele Gefahren in sich.

 

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