01.06.2010

Wie können wir leben?

Austrittswellen waren sowohl in der katholischen wie in der evangelischen Kirche in Deutschland, Österreich und der Schweiz in der Vergangenheit immer wieder zu beobachten – zuletzt vor einem Jahr im Zusammenhang mit der Holocaust-Leugnung durch Bischof  Richard Williamson von der Pius-Bruderschaft. Doch der momentane Trend übersteigt alle bisherigen Austrittswellen. Kardinal Joachim Meisner äußerte sich erst kürzlich entsetzt über die Missbrauchsfälle. In seinen 48 Jahren als Priester habe er noch nie eine so schwere Zeit für die Kirche erlebt, sagte er nach Angaben der Erzbischöflichen Pressestelle. In Deutschland war bereits das Jahr 2009 ein Rekordjahr der Austritte bei den Katholiken. Jetzt scheint es noch ärger zu kommen. In der "Süddeutschen Zeitung" schrieb Heribert Prantl erst kürzlich in einem Leitartikel: "In der Kirche gibt es keine Vertrauensfrage. Gäbe es sie, die katholische Kirche würde ein höllisches Desaster erleben. Weit mehr als die Parteien, als Politik und Wirtschaft. Weit mehr als jeder andere Beruf, als jede andere Einrichtung, weit mehr als Verwaltung, Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit lebt die Kirche aber vom Vertrauen der Menschen zu den Personen, die sie ihnen als Vertrauenspersonen vorstellt. Priester, Menschen also, die im Namen Gottes aufgetreten sind, haben diesen Namen missbraucht. Der Missbrauch ist ein doppelter: Die Priester missbrauchen ihre Opfer und sie missbrauchen das Vertrauen, das ihnen entgegen gebracht wird. Die katholische Kirche steht daher in der moralischen Insolvenz "

Das sind markige Sprüche, die man nicht unreflektiert stehen lassen sollte. Wie auch der Psychotherapeut, Theologe und Bestseller-Autor Manfred Lütz meint, der in einer seiner Aussendungen kritisiert, dass in der aktuellen Diskussion das gesellschaftliche Umfeld nur zu schnell ausgeblendet und die katholische Kirche allein als Sündenbock hingestellt wird. Gewiss kann sich die Kirche nicht damit aus der Verantwortung ziehen, dass sich immer noch neunzig Prozent aller Kindesmissbrauchsfälle außerhalb der Kirche ereignen. Das wäre eine grobe Verharmlosung. Doch es ist, so schreibt Manfred Lütz, eine Tatsache, dass z. B. die Partei der Grünen in Deutschland noch im Jahr 1985 allen Ernstes Sex mit Minderjährigen legalisieren wollte. In einem renommierten deutschen Ärzteverlag war im Jahr 1989 sogar ein Buch erschienen, das für die Erlaubnis von sexuellen Kontakten mit Kindern geworben hat. Welche Rolle in diesem Zusammenhang die von vielen lange Zeit geforderte und in der Praxis mittlerweile vollzogene Freigabe der Pornographie und die damit verbundene sexuelle Freizügigkeit spielt, kann sich jeder selbst ausmalen. Wenn jedoch Priester, die Minderjährige missbrauchen, wie die Fachwelt behauptet, in ihrer sexuellen Entwicklung auf der Stufe von 13-Jährigen stehen geblieben sind, dann lässt sich daraus schließen, dass Veränderungen im System Kirche wahrscheinlich ebenso dringend notwendig sind wie eine Diskussion darüber, wo Grenzen der sexuellen Freiheit heute dringend gesetzt werden müssten.

Kirche gleich Jesus Christus?

Wenn wir hier von Kirche reden, ist das nicht gleichzusetzen mit der Botschaft Jesu Christi. Denn Jesus warnte deutlich jeden, der den Glauben von Kindern zerstört, und Missbrauch wirkt sich insbesondere auf Minderjährige nun einmal äußerst zerstörerisch aus, vor allem auf ihre Fähigkeit, vertrauen und glauben zu können! In der Bibel lesen wir dazu die unmissverständlichen Worte Jesu:
"Wer einen von diesen Kleinen, die an mich glauben, zum Bösen verführt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals im tiefen Meer versenkt würde." (Matthäus 18, 6) Wer also aufgrund der aktuellen Situation der Kirchen seinen Glauben aufgibt, der kennt die Bibel nicht, denn die Bibel warnt ausdrücklich davor, dass es solche böswilligen Menschen immer wieder geben wird. Wenn sich Menschen – und offensichtlich auch Vertreter der Kirchen – nicht an das Wort der Bibel halten, ändert das nichts an der Autorität der Bibel, die ja ausdrücklich davor warnt. Gerade dadurch behält sie ihre Gültigkeit und wird sie auch weiter behalten.

Persönliche Schuld

Wir sprechen heute viel von der Notwendigkeit zur Veränderung von Strukturen und von gesellschaftlichen Bedingungen, die geändert werden müssten. Die Bibel jedoch hebt viel mehr die persönliche Schuld und Verantwortung des Einzelnen hervor. Gewiss kann es in vielen Fällen notwendig sein, dass auch Strukturen verändert werden. Doch wir müssen vor allem wieder damit beginnen, die Schuld des Einzelnen zu sehen und zu erkennen, dass letztlich doch jeder selbst verantwortlich ist für sein Tun.

Christliche Lehre bleibt intakt

In Indien wird die Praxis der Witwenverbrennung von hinduistischen Gelehrten mit der Religion des Hinduismus begründet und bis heute praktiziert. Im Islam ist es der militante Dschihad, der von islamischen Gelehrten aus dem Koran abgeleitet wird. Doch das Christentum könnte niemals Kindesmissbrauch von der Bibel ableiten oder rechtfertigen, nicht einmal der Zölibat ist durch das Wort der Bibel zu rechtfertigen, auch keine Kreuzzüge, Scheiterhaufen oder was immer es in der Geschichte der christlichen Kirche alles gegeben hat. Das waren Verirrungen des Menschen, aber niemals Handlungen, die von den Worten Jesu abgeleitet werden konnten. Die katholische wie auch die evangelische Kirche stehen als Institutionen derzeit geschwächt da und die Autori­tät der kirchlichen Repräsentanz ebenso; die christliche Botschaft allerdings ist davon nicht betroffen und konnte dadurch auch nicht beschädigt werden. Vielmehr haben Katholiken und Protestanten derzeit einen triftigen Grund, demütig zu sein – im Verhältnis zueinander wie auch gegenüber der Welt der Nichtchristen. Denn selten zuvor fühlten sich die Gläubigen beider Kirchen so sehr von ihren Autoritäten allein gelassen wie heute.

Repräsentanten christlicher Kirchen verzichten auf ihr Amt

Wie wir wissen, sind in beiden großen christlichen Glaubensgemeinschaften in Deutschland – der katholischen und der evangelischen – im Jahr 2010 innerhalb weniger Wochen zwei hochrangige Würdenträger zurückgetreten. In der protestantischen Kirche war es die Vorsitzende der Bischofskonferenz Margot Käßmann, die alkoholisiert am Steuer angetroffen wurde, und in der katholischen Kirche wird Bischof Walter Mixa vorgeworfen, dass er in seiner Zeit als Stadtpfarrer der oberbayrischen Kleinstadt Schrobenhausen Kinder gezüchtigt hätte. So unterschiedlich der Anlass auch sein mag; in beiden Fällen führte er zum Rücktritt aus dem Amt als Reaktion auf die öffentlichen Vorwürfe.

Kirche ist weltweit im Aufschwung

Wer nun allerdings denkt, dass die Kirche keinen Zulauf mehr hätte oder sich gar in einem Abwärts­trend befände, der irrt sich sehr. Denn – global gesehen – bildet die Entwicklung der Kirchen in Europa eine absolute Ausnahme. Im Grunde genommen fällt die derzeitige Entwicklung in Westeuropa weltweit nicht einmal ins Gewicht. Die christlichen Kirchen verzeichnen nämlich weltweit ein stetiges Wachstum und zwar mehr als über viele Jahrhunderte ihrer zweitausendjährigen Geschichte. Das gilt übrigens nicht nur für das Christentum. Auch der Buddhismus, Hinduismus und vor allem der Islam verzeichnen steigende Mitgliederzahlen. Während z. B. nur noch ein Viertel der Deutschen sagt, die Religion sei für sie wichtig, vertreten immerhin 57 Prozent der Amerikaner diese Auffassung und 98 Prozent der Senegalesen. Auch bei uns steht die Kirche, wie Jan Hermelink, Professor für Praktische Theologie an der Universität Göttingen, meint, noch immer "für Verlässlichkeit, Konstanz, Normalität und Institutionalität".

Wie Glaube in der Gesellschaft wirkt

"Bevor staatliche Ordnungen stark genug waren, das Zusammenleben der Menschen zu regeln", so schrieb Norbert Abt in der Zeitschrift "Wirtschaft und Ethik" im Jänner 2010, "wurde die Gesellschaft vor allem durch die christliche Religion ge­ordnet. Religion formulierte Regeln und schuf gemeinsame Riten und Feste, die das Zusammengehörigkeitsgefühl einer Gesellschaft und deren soziales Verhalten gegenüber anderen prägten. Außerdem führten Religionen ein Wertesystem ein, dessen Einhaltung durch den Respekt vor der göttlichen Autorität durchgesetzt werden konnte."

Mit dem christlichen Glauben gehen Werte verloren

Davon sprach auch ZDF-Moderator und Bestseller-Autor Peter Hahne erst kürzlich in einem seiner Vorträge. Er warnte davor, dass es, angesichts von fünf Millionen Deutschen, die schon bald an Altersdemenz erkranken werden, zum übereilten Ruf nach Sterbehilfe kommen könnte. "Wenn wir zu diesen Problemen schweigen", so warnt Peter Hahne, "kommt es irgendwann zum großen Knall!" Das gelte auch für viele andere Bereiche unserer heutigen europäischen Gesellschaft. Denn während einerseits die Menschen immer älter werden, fehlt andererseits den Pflegeberufen der Zulauf; und während die Geburtenraten immer weiter zurückgehen, zeigen sich viele Jugendliche heutzutage gar nicht mehr ausbildungsfähig und -willig.

Haben die Kirchen versagt?

"Der christliche Glaube muss nicht nur gelebt und bezeugt, sondern auch gelehrt werden", schreibt Peter Schmid in einem Artikel zum Thema "Zukunft der Kirche".
Tatsächlich ist es so, dass sowohl die katholische wie auch die evangelische Kirche sich in den letzen Jahrzehnten hauptsächlich damit begnügt hat, Rituale zu pflegen. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem Wort der Bibel gibt es für den Großteil der Gläubigen der großen Kirchen schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Selbst der Religions­unterricht in den Schulen ist weitgehend zu einem inhaltslosen unverbindlichen Geplänkel geworden und vermittelt weder christliche Grundsätze noch verbindende Werte. Es ist also nicht falsch, wenn führende amerikanische Theologen wie James I. Packer oder Gary A. Parrett fordern, dass christlicher Glauben wieder mehr und intensiver gelehrt werden muss. Im Grunde war dies auch die eigentliche Ursache für die Gründung der evangelikalen Bewegung am Ende des 19. Jahrhunderts. Prediger wie John Wesley oder William Booth wollten keine neuen Glaubensbewegungen. Doch sie erkannten, dass es ohne intensive Lehre nicht möglich war, den Menschen in ihrer Not zu helfen. Deshalb begannen sie, von Jesus Christus zu predigen, von Schuld und Sünde und von dem großartigen Angebot der Vergebung durch Jesus Christus – und die Menschen kamen in Scharen zu ihnen, bekehrten sich und ließen sich taufen. Heute geschieht Ähnliches in vielen afrikanischen Ländern oder in Ländern des Fernen Ostens. Viele Tausend Menschen kommen zum Glauben, weil das Wort des lebendigen Gottes gepredigt wird. Sie bekehren sich und fangen ein neues Leben im Glauben an den lebendigen Gott an. Der ERF ist seit Jahrzehnten an diesem Geschehen beteiligt. Mitarbeiter in den verschiedensten Ländern, wie z. B. Südafrika, Kenia, Indien, China, Russland, Armenien, Paraguay oder Chile können von unzähligen Beispielen berichten, wie Gottes Wort der Bibel bis heute wirkt. Wie Menschen von diesem Wort ermutigt, geheilt werden, und sich zu einem Leben im Glauben bekehren.

Wo Kirche Zukunft hat

Eine christliche Kirche hat immer dort Zukunft, wo das Wort des lebendigen Gottes wieder neu in einer verständlichen Sprache verkündigt wird und zwar so, dass Gott nicht nur als der "liebe Gott" erkannt werden kann, sondern als der Gott, wie er selbst sich in der Bibel zu erkennen gibt. Wo das in den letzten Jahrzehnten geschehen ist, haben christliche Gemeinschaften bis heute großen Zulauf und erfreuen sich immer größerer Beliebtheit. Dazu zählen evangelikale Gemeinden, die auch in unserer Gegend von den großen Kirchen zuerst beschimpft und bekämpft wurden. Inzwischen sieht es jedoch so aus, dass einige Vertreter der Kirchen erkennen, dass sie von diesen evangelikalen christlichen Gemeinschaften lernen können. Denn hier wird Gottes Wort, die Bibel, wieder ernst genommen und intensiv gelehrt, wie Jesus Christus es ganz eindeutig befohlen hat. Doch selbst wenn die großen Kirchen heute die Demut aufbrächten und von diesen christlichen Gemeinschaften lernen würden, wie wichtig es ist, das Wort Gottes zu predigen, so wäre auch das nicht genug. Damit haben einige mutige und verantwortungsbewusste Priester bereits vor Jahren begonnen. Allerdings mit mäßigem bis gar keinem Erfolg, weil die Grundlagen fehlen. Solange die Gläubigen der großen Kirchen nämlich nicht einmal wissen, was sie überhaupt glauben sollten, wird auch jeder Versuch einer Erneuerung wenig bewirken. Eine gesunde und vor allem intensive und stetige Lehre ist nur dann möglich, wenn die Grundlagen gelegt sind und die Menschen sich dazu bekennen. Wenn christliche Werte nicht nur deshalb von Bedeutung sind, weil "man" eben ein "Christ" ist, sondern weil sie die Grundlage für ein erfolgreiches und lebenswertes Leben sind. Wenn das wieder jedem in den Reihen der großen Kirchen klar geworden ist, dann kann der momentan so oft beschworene Erneuerungsprozess der Kirchen beginnen. Doch dafür braucht es eine Schar junger, fähiger Prediger, denen Menschen von heute wieder gerne zuhören. Solange die katholische Kirche aber nicht mal mehr das Personal dafür zur Verfügung hat und die evangelische Kirche ihre größte Sorge darin sieht, wie sie sich in politischen Fragen positionieren soll, wird sich in den großen christlichen Glaubensgemeinschaften wenig ändern.

Wo Christen leiden

Wir haben in der Februar-Ausgabe 2010 unserer ERF Programmzeitschrift davon berichtet, wie Christen in vielen Ländern der Erde heute verfolgt und gedemütigt werden. Am schlimmsten in Ländern wie dem atheistischen China oder Nordkorea, ebenso im muslimischen Saudi-Arabien, im Sudan, Iran und Irak oder in Indonesien. Aleksandr Solschenizyn, der in der atheistisch-kommunistischen Sowjetunion acht Jahre im Arbeitslager verbrachte, beschrieb diese Jahre in seinem Buch "Ein Tag im Leben des Ivan Denissowitsch", für das er 1970 den Literatur-Nobelpreis bekam. In seiner berühmten Antrittsrede 1978 an der Harvard Universität in den USA, wohin er nach seiner Ausbürgerung aus der Sowjetunion geflüchtet war, warnte er die westliche Welt vor der Selbstzerstörung. Die Dekadenz der westlichen Welt, sagte Solschenizyn, sei nichts anderes als eine direkte Folge dessen, dass der Westen Gott und Gottes Gebote verworfen habe.
Die Folgen dieser Entwicklung sind indes mit Händen zu greifen. Die Unterminierung christlicher Werte geht zwar schleichender vor sich als in den Ländern mit offener Christenverfolgung, doch die Wirkung ist teilweise noch verheerender. Es beginnt bei der rücksichtslosen Herabwürdigung und Verspottung der christlichen Werte. Das gab es schon öfters in der Geschichte, dass eine Gruppe von Menschen oder eine Religion als engstirnig und falsch hingestellt wurde, um sie anschließend anzugreifen und zu vernichten.

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