20.06.2024

Reisen Sie! Aber ver-reisen Sie sich nicht!

Reisen ist wunderbar. Entspannend. Bildend. Erhellend. Wenn man denn richtig reist.

Alain de Botton hat ein wunderbares Buch über die „Kunst des Reisens“ geschrieben. Reisen ist eine Kunst? Dann muss man es können. Schließlich kommt „Kunst“ von „Können“, um einen alten Kalauer zu bemühen.

Richtig reisen, gekonnt reisen beginnt mit der richtigen Wahl des Reiseziels. Ja, an der Nordsee ist es zuweilen stürmisch. Ja, in Süditalien wird es zuweilen heiß. Ja, in Finnland gibt es Mücken. Ja, in der Schweiz ist es teuer. Wo will ich hin? Was tut mir gut? Was kann ich mir leisten? Was will ich entdecken? Und mit wem?

Richtig reisen, gekonnt reisen geht weiter mit der richtigen Vorbereitung. Wo komme ich eigentlich hin? Was leben da für Menschen? Was gibt es da zu entdecken? Was sollte ich im Reisegepäck haben, was besser zuhause lassen?

Richtig reisen, gekonnt reisen heißt auch illusionslos reisen. Überall gibt es Menschen. Nette und weniger nette. Offenherzige und zugeknöpfte. Darum menschelt es überall. Mancher freundliche Kellner ist nur freundlich, solange er auf ein ordentliches Trinkgeld hoffen kann. Worauf, so ganz nebenbei, viele Kellner in vielen Ländern angewiesen sind. Das zu erwartende Trinkgeld zieht ihr Arbeitgeber im Voraus vom spärlichen Gehalt ab.

Illusionslos reisen heißt auch wissen, dass man sich selbst immer und überall mitnimmt. Die Kopfschmerzen und die Beziehungsprobleme und die finanziellen Sorgen. So richtig abschalten gelingt meist nur in kurzen Glücksmomenten.

Richtig reisen, gekonnt reisen heißt auch langsam reisen. Sich Zeit lassen. Sich Zeit nehmen. Warten, bis die Seele nachkommt. „Europa in fünf Tagen“ sollten wir anderen überlassen. Hinschauen und hinhören. Den Rhythmus der anderen Welt aufnehmen. Sich auf Unerwartetes einlassen. Pläne spontan verändern.

Und alles auf eigene Faust oder in der Geborgenheit einer Gruppe? Auch das muss vorher gründlich überlegt werden. Es hängt vom Reiseziel ab. Und von den momentanen Bedürfnissen. Nicht immer ist freier, wer allein reist. Er verliert viel mehr Zeit durch Planung und Vorbereitung und durch die täglichen kleinen und großen Entscheidungen – und erlebt vielleicht weniger als der, der auf Wegen reist, die erfahrene Profis für ihn geebnet haben.

Dass wir überhaupt reisen können! Meine Großeltern waren über 50, als sie in den ersten Urlaub gereist sind. Und der führte sie gerade mal 20 Kilometer weg von ihrer Heimatstadt … Reisen zu können ist ein wunderbares Privileg, das bis heute nur wenige Menschen in nur wenigen Ländern genießen können.

Reisen bildet Hirn und Herz. Neue Länder und Landstriche erkunden, neue Gerüche atmen, neue Gewürze schmecken, neue Bilder speichern, neue Menschen lieb gewinnen, neue Gedanken denken. Und dankbar zurückkehren ins eigene Land und in die eigenen vier Wände.

Ich fange jedenfalls schon mal an, meine Koffer zu packen. Ich bin gespannt. Also: „Haltet mich nicht auf, denn der HERR hat Gnade zu meiner Reise gegeben“ (1. Mose 24, 56).

Jürgen Werth

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